3. Gemäldekopien im zeichnerischen Oeuvre
    holländischer und flämischer Künstler des 17. Jahrhunderts

3.1. Holländische Künstler:
      Leonaert Bramer, Jan de Bisschop, Gerard van Honthorst

Zeichnerische Gemäldekopien lassen sich bei zahlreichen holländischen Künstlern des 17. Jahrhunderts nachweisen.[92] Die Auswahl beschränkt sich hier auf Werke von Jan de Bisschop[93], Leonaert Bramer[94] und Gerard van Honthorst[95], da diese miteinander verglichen, ganz unterschiedliche, technische Herangehensweisen verdeutlichen und somit ein großer Querschnitt erreicht wird. Jan Bisschop hat wahrscheinlich das größte Kompendium an Kopien hinterlassen. Seine Technik ist die Tuschezeichnung mit Pinsel, die er in beachtlicher Weise beherrscht und bereits von Arnold Houbraken in seinem Werk "De Groote Schouburgh" beschrieben wird:

„ ... door zijn konstige wijze van teekenen met het penseel op wit papier ... yder meesters byzondere wijze van behandeling zoo konstig wist na te bootzen, dat men straks met den eersten opslag van‘t gezicht konde zien of zijn Teekening gevolgt was naar een schilderij van Tintoret, Bassan, Karats, P. Veronese, Rubbens, Van Dyck en zoo voort. om welke verwonderlijke wijze van teekenen wij zijn naam onder de kunstschilders van zijnen tijd geplaatst hebben ... ."[96]

Von Leonaert Bramer hat sich im Amsterdamer Rijksprentenkabinet ein Album mit 56 Zeichnungen nach Gemälden erhalten, die auf fast ebenso viele verschiedene, zum überwiegenden Teil, zeitgenössische, holländische Künstler zurückgehen. In schwarzer Kreide hat der Künstler im wesentlichen die Konturlinien mit einem schnellen, präzisen Strich erfaßt.
Jürgen Ovens hat nach dem "Marientod" [97] von Caravaggio eine zeichnerische Kopie angefertigt. Desgleichen kopiert Gerard van Honthorst die "Kreuzigung Petri" [98] des Italieners.[99] Gerard van Honthorst hat eine ausdifferenzierte Tuschelavierung über seine Federzeichnung gelegt und damit dem Gemälde folgend, die Figuren plastisch aus Licht und Schatten modelliert. Dabei ist keine vollkommene Übereinstimmung zwischen der Angabe von hellen und dunklen Flächen zu erreichen. Die Umsetzung in ein anderes Medium läßt die starken Kontraste Caravaggios nicht vollends zu. Ein Vergleich zwischen den beiden Federzeichnungen zeigt eine wesentlich malerischere Auffassung Gerard van Honthorsts gegenüber der Reduzierung auf eine lineare Betonung der Zeichnung durch Jürgen Ovens.


3.2. Flämische Künstler:
       Peter Paul Rubens und Anton van Dyck

Die zeichnerischen Oeuvre des Peter Paul Rubens[100] und Anton van Dycks[101] beinhalten eine große Anzahl zeichnerischer Gemäldekopien, die im folgenden kurz umrissen werden. Beide haben während ihrer Reisen in Italien Werke anderer Meister studiert, zeichnerisch festgehalten und durch die kreative Handlung des Kopierens für sich erarbeitet, so daß sie fortan als Repertoire an Bilderfindungen, Motiven und Kompositionen für die Künstler verfügbar waren. Das Festhalten der Eindrücke in einer Zeichnung ermöglichte es ihnen, die Ideen zu transportieren und sie anhand dieser Gedächnisstützen zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt zu reproduzieren. Die Einflüsse der italienischen Kunst auf Peter Paul Rubens werden von J. Q. van Regteren Altena (1940) ausgeführt, der als Vorbilder u. a. Michelangelo, Raffael und Tizian benennt.[102] Ausführlicher wird im folgenden auf den zeichnerischen Umgang des jungen Anton van Dyck mit den italienischen Einflüssen eingegangen.


3.2.1. Anton van Dycks "Italienisches Skizzenbuch"

Das so genannte "Italienische Skizzenbuch" [103] ist eine Ansammlung von über hundert Federzeichnungen, die der junge Anton van Dyck während seiner Italienreise anfertigte.[104] Der Künstler zeichnete dabei nicht auf einzelnen Blättern, die erst später zusammengefaßt wurden, sondern arbeitete auf den Seiten eines Skizzenbuches. Eine spätere Anfügung von weiteren Seiten ist nicht ersichtlich.[105] Demgegenüber kann der Abgang einzelner Blätter aus dem Verband nicht ausgeschlossen werden.[106] Einzelne Zeichnungen, die stilistisch und motivisch eine Entstehung während der Italienreise vermuten lassen, müssen jedoch nicht zwangsläufig zum Skizzenbuch gehört haben. Parallel zu diesem hat Anton van Dyck auch auf einzelnen, losen Blättern gezeichnet. Das erhaltene Buch, das ca. 125 Blätter umfaßt, dürfte im wesentlichen dem alten Bestand entsprechen.
Unsicherheit herrscht über den Zeitraum, in welchem Anton van Dyck das Skizzenbuch benutzt hat.[107] Gert Adriani äußert die Vermutung, daß der Künstler es nur in den ersten Jahren seines Italienaufenthaltes zwischen 1621 und 1624 gebraucht habe.[108]
Wichtiger noch ist die Feststellung, daß Anton van Dyck das Skizzenbuch nicht chronologisch Blatt für Blatt füllte, sondern bestimmte Themen zusammenfaßte, indem er u. a. Darstellungen der Madonna oder Szenen aus dem Leben Christi getrennt voneinander notierte.[109] Die Arbeitsweise Anton van Dycks wird dadurch deutlich. Zeichnete er nacheinander Motive unterschiedlicher Themen, so ließ er nach Fertigstellung der ersten Zeichnung die folgenden Seiten frei, um diese erst später mit weiteren dazu passenden Motiven zu füllen. Ein neues Thema folgte  im gehörigen Abstand. Und es entstand ein Katalog, der beispielsweise verschiedene Mutter-Kind-Gruppen festhält, gefolgt von Madonnentypen mit erweiterten Personal, z.B. "Die Heilige Familie", "Maria mit Kind und Johannesknaben" oder "Maria mit Kind und hl. Katharina".[110] Daran schließen sich weitere Gruppen verschiedener Heiliger, Darstellungen des "Ecce Homo" oder der "Kreuztragung Christi" an.[111] Dieses planvolle Vorgehen erklärt somit auch die leer gebliebenen Blätter. So könnte der Künstler auf die Möglichkeit, weitere Motive durch folgende Zeichnungen aufzunehmen, verzichtet haben, da er entweder das Interesse verloren hatte, Variationen eines Themas noch zu ergänzen oder da er kein weiteres Studienmaterial mehr vorfand.
Die kunsthistorische Auseinandersetzung mit dem "Italienischen Skizzenbuch" reduziert sich bislang auf Fragen nach einer Identifizierung der von Anton van Dyck umgesetzten Vorlagen.[112] Der Großteil der Zeichnungen ist mit eigenhändigen Aufschriften durch Anton van Dyck versehen, die zumeist einen Künstlernamen als Autor der kopierten Vorlage benennen. Infolgedessen bedeutete eine Identifizierung der Vorlagen vor allem ein Vergleich mit den überlieferten Werken, um als weiteres an ihnen die von Van Dyck benannte Autorschaft zu überprüfen.[113]
Dabei steht eine moderne, kunsthistorische Differenzierung zwischen Original, in erster Fassung oder Variation, eigenhändige Kopie oder Wiederholung, Schüler- oder Werkstattarbeit und Arbeit eines Nachfolgers oder Nachahmers unvermittelt den von Anton van Dyck überlieferten Benennungen gegenüber. Weder wissen wir, welche Kategorien Anton van Dyck selbst besaß, wenn er ein Werk als Schöpfung Tizians bezeichnete, noch woher er sein Wissen über das Vorbild seiner Kopie bezog. Der Künstler könnte selbst aufgrund eigener Anschauung zu dem Schluß gekommen sein, in einem Werk, das er kopierte und mit der Aufschrift "Titian" versah, den venezianischen Maler als Schöpfer zumindest der Komposition zu erkennen. Jedoch könnte Anton van Dyck auch einer ihm zugetragenen Überlieferung gefolgt sein. Demnach bleibt die Frage unbeantwortet, über welche Art des Wissens Anton van Dyck verfügte und durch wen er dieses Wissen bezog.
Des weiteren bleibt es eine Vermutung, ob Anton van Dyck zwischen einer eigenhändigen Fassung und einer Werkstattarbeit unterscheiden konnte. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, daß er sich im Laufe der Zeit die Fähigkeit angeeignet hatte, die ‘Handschrift‘ Tizians zu erkennen. Dafür sprechen zum einen der reine Umfang der studierten Werke und zum anderen die Intensität, mit der er seine Studien betrieb, um das Erlernte auch auf seine eigenen Arbeiten zu übertragen. Anton van Dyck interessierte sich als Schüler von Rubens und seines zweiten ‘Lehrers‘ Tizian besonders für malerische Effekte und deren technische Umsetzung und studierte deshalb auch die ‘Handschrift‘ Tizians. Das bedeutet jedoch weder, daß alle mit Aufschriften versehenen Zeichnungen nach Originalen oder eigenhändigen Fassungen entstanden sein müssen, wenn sie durch einen Künstlernamen gekennzeichnet sind, noch daß Anton van Dyck diese Einschätzung hätte vermitteln wollen, sondern sie in ihrer Komposition auf besagte Meister verweisen.
Die Zeichnungen von Anton van Dyck zeigen deutlich das Interesse, daß der Künstler anhand seiner Kopien verfolgte, und das war gewiß nicht der Versuch, den Umgang des Venezianers mit Farbe festzuhalten. Nur vereinzelt finden sich Farbangaben und auch das Verhältnis zwischen Licht und Schatten ist lediglich durch einzelne Schraffen oder noch seltener durch Lavierungen angegeben. Anton van Dyck interessierte sich vor allem für die Kontur seiner Figuren, um in wenigen Strichen deren Haltung und in mehrfigurigen Szenen deren Position zueinander festzuhalten. So zeigt das Skizzenbuch einen Künstler, der sich ein Repertoire an Figuren erarbeitet, indem er u. a. die Darstellung der Madonna in immer neuen Mutter-Kind-Gruppe variiert.

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